Fokus Mehrsprachigkeit. Den Schatz der sprachlichen Vielfalt heben
I: „Jeder Mensch ist von Natur aus mehrsprachig veranlagt“
VI: „Unsere Sprachen sind wie unsere Beziehungen: man muss sie pflegen“
VIII: „Einsprachigkeit ist eine Reliquie des europäischen Nationalstaates“
Dies sind drei von insgesamt 14 Thesen, die eine von der AK Wien organisierte sprachenpolitische Arbeitsgruppe 2017 proklamiert hat, um die Debatte über Österreichs Mehrsprachigkeit anzustoßen – ein neu erschienener Sammelband führt diese Auseinandersetzung nun fort. Aus Anlass seiner Präsentation diskutierten am 20. Oktober 2022 in der AK-Bibliothek rund 50 Gäste über aktuelle Fragen zum Umgang mit Sprachenvielfalt: Wo steht Österreich heute im Umgang mit seiner mehrsprachigen Realität? Welche Erfahrungen machen Menschen hier beim täglichen Gebrauch und Weiterlernen ihrer Sprachen? Welche Schritte braucht es, um den Schatz der Mehrsprachigkeit künftig erfolgreicher zu heben?
AK Wien als Kämpferin für die Mehrsprachigkeit ihrer Mitglieder
In ihrer Eröffnung betonte Ilkim Erdost, Leiterin des Bereichs Bildung in der AK Wien, das langjährige Engagement der Arbeiterkammer, die Sprachen all ihrer Mitglieder wertzuschätzen und zu fördern. „Die Sprachen unserer Mitglieder sind auch unsere Sprachen“, unterstrich Erdost und bestätigte, dass die AK Wien auch in Zukunft als Vernetzerin für bildungs- und sprachenpolitische Organisation sowie als Vertreterin der sprachlichen Interessen all ihrer Mitglieder aktiv bleiben werde.
Einen Rückblick auf bisherige Aktivitäten der AK Wien und der von ihr koordinierten Arbeitsgruppe Sprachen gaben anschließend Oliver Gruber und Michael Tölle, Referenten der Abteilung Lehrausbildung und Bildungspolitik. Zahlreiche Veranstaltungen und Studien – etwa zu den Themen Sprachförderung für Erwachsene, Mehrsprachigkeit auf der Baustelle, Mehrsprachigkeit in der Pädagog:innenaus-/-fortbildung sowie Deutschförderung in der Schule – versuchten in den letzten 10 Jahren, Herausforderungen wie Lösungsansätze für das Nutzen und Weiterentwickeln der sprachlichen Ressourcen aller Wiener:innen sichtbar zu machen. Die Entwicklung von 14 Sprachthesen und die Herausgabe eines Sammelbands mit grundlegenen Antworten auf Fragen zur Mehrsprachigkeit sei das konsequente Ergebnis dieser jahrelangen Zusammenarbeit.
Mehrsprachigkeitsschatz heben – intensive Diskussionen
Den gemeinsamen Diskussionsabend leiteten Impulsbeiträge von zwei Preisträgerinnen des „Sag’s Multi“-Redewettbewerbs ein:
Fatima Kandil schilderte zunächst ihre Erfahrungen mit dem Aufwachsen in einem bilingualen (arabisch-türkischsprachigen) Elternhaus in Wien. Erst spät sei ihr diese wertvolle Ressource bewusst geworden, heute aber helfe ihr ihre Mehrsprachigkeit auch beim Lehramtsstudium Deutsch/Englisch.
Sabiha Moradi hingegen berichtete von den Hürden, vor denen sie nach ihrer Migration nach Österreich zunächst beim Lernen des Deutschen stand. Der eigene Wille gepaart mit kontinuierlicher Unterstützung habe ihr aber letztlich einen HTL-Abschluss ermöglicht und den Weg in eine weiterführende IT-Ausbildung eröffnet. Beide Frauen betonten, dass ein offenes Klima, Wertschätzung sowie Angebote zur Sprach-Förderung wichtige Voraussetzungen für ein Entwickeln der eigenen sprachlichen Fähigkeiten seien.
Rudolf de Cillia vom Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien hielt fest, dass nach wie vor eine nur unzureichende Analyse der Sprachensituation in Österreich bestehe und sich der nationale Diskurs weiter primär nur auf Deutsch fokussiere, Mehrsprachigkeit hingegen ein nettes Beiwerk bleibe (v.a. wenn sie die Sprachen der großen Zuwanderungsgruppen betreffe).
Verena Blaschitz vom Institut für Germanistik der Universität Wien diagnostizierte eine Privatisierung der Mehrsprachigkeit, als Folge von nach wie vor mehrsprachigkeitsscheuen öffentlichen Institutionen. Privatwirtschaft, NGO’s und der halböffentliche Bereich seien hier in vielen Belangen schon sehr viel weiter. Volkshochschuldirektor Thomas Laimer wiederum betonte die Notwendigkeit von mehrsprachigen Räumen und Angebote in der Erwachsenenbildung auf die Bedürfnisse der Lernenden zuzuschneiden. In einer Zeit multipler Krisen und Belastungen für die Haushalte brauche es aber vor allem auch finanzielle Unterstützung, um Zugang zu diesen Angeboten zu schaffen.
Zahlreiche Anliegen und Perspektiven aus dem Publikum rundeten den Diskussionsabend ab: So gelte es, Bedrohungsgefühle bei Mehrsprachigen ernst zu nehmen, Positivbeispiele & Lösungswege aufzuzeigen und die gesellschaftliche Grundstimmung gegenüber Mehrsprachigkeit als Last oder Defizit aufzubrechen. Mehr Sichtbarkeit für mehrsprachige Vorbilder sei sowohl für Jugendliche wie für Erwachsene essentiell, um Selbstvertrauen und Selbstverständlichkeit zu stärken. Gerade im Bereich der (neuen) Medien sei noch enormes Potential für mehrsprachige Formate vorhanden, das bislang kaum genutzt werde.