Vom Arbeitsmarkt entmutigt
Personal gesucht – wohin das Auge derzeit blickt, überall wird offenbar händeringend um Mitarbeiter:innen geworben. Es fehlen nicht nur Fachkräfte, sondern generell Arbeitskräfte. Und wie es scheint, bleiben viele Unternehmen mit ihrer Suche nach Beschäftigten erfolglos. Ein Grund dafür ist, dass zu wenig auf die Beschäftigten geschaut wird.
Videorückblick
Welche Maßnahmen für eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt gesetzt werden müssen, darüber informierten Sie: Ines Stilling, Bereichsleiterin Soziales AK Wien und Daniel Schönherr, Studienautor SORA:
Warum 38.900 Frauen die Suche nach einem Job aufgegeben haben
Für Ines Stilling, Bereichsleiterin Soziales in der Arbeiterkammer Wien, braucht es ein radikales Umdenken in Betrieben und Politik: „Betriebe müssen endlich verstehen, dass die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der entscheidende Hebel ist, um sowohl Beschäftigte zu halten als auch neue Arbeitskräfte zu gewinnen. Und die Politik ist gefordert, Arbeitslose besser zu unterstützen und endlich auch jene erwerbslosen Menschen in den Fokus zu nehmen, die sich vom Arbeitsmarkt abgewandt haben.“
Sie verweist in diesem Zusammenhang auf eine große Anzahl an Frauen – konkret waren es im 3. Quartal des Vorjahres 38.900 – die „zwar grundsätzlich gerne arbeiten würden, aber derzeit nicht aktiv nach Arbeit suchen“. Diese Gruppe – als „Stille Reserve“ bezeichnet – scheint in keiner Arbeitslosenstatistik auf. „Es handelt sich hier um Frauen, die aus unterschiedlichen Gründen vom Arbeitsmarkt enttäuscht sind. Ihnen fehlt oft die Perspektive auf eine passende Stelle“, so Stilling.
Das zeigen die Ergebnisse einer aktuellen SORA-Studie. „Diesen Frauen muss – nicht nur aufgrund des derzeit herrschenden Arbeitskräftebedarfs – besonderes Augenmerk geschenkt werden. Es braucht geeignete Maßnahmen, um ihnen wieder Mut zu machen und sie erfolgreich in den Arbeitsmarkt zu integrieren“, fordert AK Wien Bereichsleiterin Stilling.
Daten und Fakten
Die Arbeitslosigkeit in Österreich wird systematisch unterschätzt: „Es gibt tausende von arbeitslosen Menschen, die grundsätzlich gerne arbeiten würden, innerhalb von zwei Wochen eine Stelle annehmen könnten, aber trotzdem nicht aktiv nach Arbeit suchen. Sie werden nicht in den offiziellen Arbeitslosen-Zahlen, wohl aber von der Arbeitskräfteerhebung der Statistik Austria als sogenannte „Stille Reserve“ erfasst“, erklärt Daniel Schönherr, Studienautor des Institute for Social Research and Consulting (SORA). 2020 machte die „Stille Reserve“ ein Drittel aller Menschen ohne Arbeit aus, 2021 und 2022 immerhin rund ein Viertel.
Konkret befanden sich im dritten Quartal 2022 insgesamt 38.900 Frauen in dieser Gruppe. Nicht berücksichtigt ist dabei eine weitere Gruppe arbeitsloser Menschen, die ebenfalls nicht in den Arbeitslosenstatistiken enthalten sind. In einer erweiterten internationalen Definition der „stillen Reserve“ werden auch Nicht-Erwerbspersonen dazugezählt, die zwar aktiv Arbeit suchen, jedoch kurzfristig (innerhalb von zwei Wochen) nicht für den Arbeitsmarkt verfügbar sind. Das sind weitere 27.300 Frauen. Damit sind das insgesamt 66.200 Frauen, die nicht im Fokus der Arbeitsmarktpolitik stehen!
Sie sind im Schnitt jünger als erwerbstätige Frauen und häufiger niedrigqualifiziert.
Sie stammen häufig aus zwei Berufsgruppen: Dienstleistungs-/Verkaufsberufe und Hilfsarbeiten. Runde jede 3. Frau arbeitete davor in einem dieser Berufe.
Im zeitlichen Verlauf (von 2020 bis 2022) verfestigt sich das Verharren in dieser Gruppe vor allem bei Müttern – ihr Anteil stieg von 37 auf 45 Prozent – und bei Frauen mit Migrationshintergrund – ihr Anteil stieg von 43 auf 60 Prozent.
Als Gründe für die nicht stattfindende Arbeitssuche werden primär genannt: Vermutung, dass es keine passende Stelle gibt und die Teilnahme an einer Aus- und Weiterbildung. Rund die Hälfte der betroffenen Frauen führt einen dieser beiden Gründe an.
Jede 3. Mutter gibt an, dass die Betreuungspflichten eine Jobsuche nicht möglich machen.
Prekäre Berufsrealitäten von Frauen
Um die Gründe, warum derzeit nicht aktiv nach einem neuen Arbeitsplatz gesucht wird, noch näher zu beleuchten, führte SORA insgesamt zwölf qualitative Interviews mit betroffenen Frauen durch. „Resignation ist ein erster Grund. Aber es liegt zum Teil auch an einer antizipierten unzureichenden Unterstützung seitens des AMS, dass sich diese Frauen nicht als arbeitssuchend melden“, sagt SORA-Experte Schönherr.
Gemein ist ihnen, dass sie in ihrem beruflichen Leben bisher großteils negative Erfahrungen machen mussten. „In der Reflexion des bisherigen Berufslebens stehen in den Interviews den wenig positiven Nennungen – zumeist war es das eigenständige Einkommen und die damit verbundene Autonomie – eine Vielzahl an Erzählungen von kleineren und größeren Abwertungen, Diskriminierungen, aber auch sexueller Gewalt gegenüber.
Die Interviews lieferten einen Einblick in zutiefst prekäre Berufsrealitäten von Frauen in Österreich, insbesondere im Dienstleistungssektor. Geprägt sind die Erfahrungen am Arbeitsmarkt auch von wiederholter Arbeitslosigkeit, geringer Entlohnung, nicht der Qualifikation entsprechenden Tätigkeiten, kaum vorhandenen Mitsprachemöglichkeiten und körperlich und emotional sehr belastenden Arbeitsbedingungen und fehlenden Aufstiegschancen“, so Schönherr. Deshalb stehen oft auch gesundheitliche Gründe einer aktiven Arbeitssuche entgegen.
In den Jobs, in denen die Frauen vor ihrer Arbeitslosigkeit tätig waren, mussten sie daher auf drei Ebenen kämpfen:
- um die Gesundheit, weil sie unter gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen arbeiteten
- um die finanzielle Absicherung, weil die Entlohnung zu gering war
- um Würde und Anerkennung, weil sie diskriminiert und abgewertet wurden
Bei den meisten interviewten Frauen gerät die finanzielle Haushaltssituation nicht gravierend unter Druck, weil zumeist ein Partnereinkommen vorhanden ist. Auch wird die Arbeitslosigkeit nicht als stigmatisierend empfunden, sondern wird als Auszeit, als Phase der Regeneration und Genesung oder auch als Phase der Kinderbetreuung und Sorgearbeit umgedeutet. „Die aktuelle Situation wird also positiv bewertet, während die zurückliegende Erwerbsbiographie zumeist negativ gesehen wird. In allen Fällen ist eine größer werdende Distanz zum Arbeitsmarkt und zur Arbeitswelt erkennbar “, analysiert Schönherr.
Das Erleben als Auszeit entlastet allerdings immer nur zeitlich begrenzt – auch das geht aus den Interviews deutlich hervor. Ein eigenes Einkommen – und damit die Existenzsicherung und eine eigenständige Bestreitung des Lebensunterhalts – ist für die interviewten Frauen auch ein Hauptmotiv, um in Zukunft wieder arbeiten zu gehen. Allerdings docken diese Frauen nicht (mehr) beim AMS an, weil es für sie keine passenden Angebote gibt.
„Wir können es uns nicht erlauben, auf diese Gruppe einfach zu verzichten. Es braucht jetzt dringend Maßnahmen – und dass nicht nur angesichts des herrschenden Arbeitskräftebedarfs, sondern vor allem auch, weil diese Frauen ein Recht auf Jobs haben, die sozial und materiell absichern, die eine gesunde Arbeit bis zum Pensionsantritt ermöglichen und würdevoll sind“, sagt AK Wien Bereichsleiterin Stilling.
Unsere Forderungen
- Einen kollektivvertraglichen Mindestlohn in allen Branchen in Höhe von 2.000 Euro brutto je Monat.
- AMS und Politik müssen einen Fokus auf die Gruppe der entmutigten Frauen legen und sie gezielt ansprechen und fördern. Es braucht Beratungs- und Qualifizierungsangebote des AMS ohne Druck auf Vermittlung in den nächsten prekären Job. Vermittlungshemmnisse müssen beseitigt werden.
- Einen Ausbau der Kinderbetreuung -und Kinderbildung – es braucht eine Milliarde Euro mehr pro Jahr für mehr Plätze, längere Öffnungszeiten sowie einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab dem 1. Geburtstag des Kindes.
- Eine Pflegereform, mehr Personal für den Gesundheits- und Pflegebereich eine Ausbildungsoffensive sowie den Ausbau professioneller Pflegeleistungen, damit alle Menschen in Österreich gut versorgt sind und der Druck auf die einzelnen Beschäftigten wegfällt.
- Eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, denn alle Beschäftigten verdienen einen respektvollen Umgang. Die Betriebe sind aufgefordert, Maßnahmen für bessere und gesunde Jobs zu ergreifen, die ein würdevolles, existenzsicherndes und gesundes Arbeiten bis zur Pension ermöglichen.