
Roadmap für einen Rechtsanspruch auf qualitätsvolle Kinderbetreuung
Egal ob Vereinbarkeit von Familie und Beruf, faire Chancen für jedes Kind, bessere Arbeitsmarktchancen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, mehr Fachkräfte für Unternehmen, die Stärkung des Standortes und des ländlichen Raumes oder die Gleichstellung von Frauen und Männern – Kinderbetreuung und Elementarbildung spielen dabei eine zentrale Rolle.
Gerade Vereinbarkeit ist ein zentrales Zukunftsthema, bei dem Politik, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Arbeitgeberinnen und Arbeitnehmerinnen an einem Strang ziehen müssen. Im Herbst 2020 legten die Sozialpartner und die Industriellenvereinigung dazu ein gemeinsames Forderungspapier zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und zur Stärkung der Elementarbildung vor.
Ein gesamtgesellschaftliches Thema im Wandel
Ein Jahr später ist das Thema weiterhin virulent. Studien zeigen, dass Frauen durch die Corona-bedingten Lockdowns wieder verstärkt die Familienarbeit übernahmen und beruflich zurücksteckten. Diese Rückschritte gilt es aufzufangen und zu drehen. Gleichzeitig muss der Kulturwandel in Richtung besserer Aufteilung von Familienarbeit zwischen Eltern weitergetrieben werden. Die Väterbeteiligung lässt nach wie vor zu wünschen übrig. Bei 8 von 10 Paaren gehen Väter weder in Karenz noch beziehen sie Kinderbetreuungsgeld, nur 3% der Väter gehen länger als 3 Monate in Karenz, 1% davon 6 Monate.
Ziel: Ein Rechtsanspruch für Kinderbetreuung ab dem 1. Geburtstag
Die Sozialpartner und die Industriellenvereinigung setzen sich daher für die Verbesserung der Vereinbarkeit mit einem konkreten Ziel ein: Es braucht einen Rechtsanspruch auf einen wohnortnahen Platz in der Kinderbildung und -betreuung:
- Dieser Platz muss qualitativ hochwertig, ganztägig sowie ganzjährig verfügbar und leistbar sein.
- Die täglichen und jährlichen Öffnungszeiten müssen so gestaltet sein, dass sie eine Vollzeitbeschäftigung für beide Eltern ermöglichen.
- Um den Ländern und Gemeinden Planungssicherheit für die Umsetzung sowie ausreichend Zeit für die fundierte Ausbildung der künftigen Pädagoginnen und Pädagogen zu geben, braucht es eine Übergangsphase. Der Rechtsanspruch soll daher in zwei Etappen erfolgen, und zwar ab Herbst 2023 ab dem 2. Geburtstag gelten und ab Herbst 2025 ab dem 1. Geburtstag des Kindes.
- Ergänzend braucht es flankierende Angebote, wie etwa qualitätsvolle betriebliche Kinderbetreuung, Tageseltern, Betriebstageseltern.
Rechtliche Varianten zur Umsetzung eines Rechtsanspruchs
Zur Umsetzung eines Rechtsanspruchs sind nach geltender Rechtslage zwei Varianten denkbar:
- Eine bundesweite Verpflichtung zur Umsetzung für die Bundesländer in einer Vereinbarung gemäß Art. 15a B-VG (Anmerkung: analog dem verpflichtenden Kindergartenjahr).
- Eine Umsetzung in den einzelnen Landesgesetzen (Kinderbetreuungsgesetzen) aller Bundesländer. Die Bundesländer können die Verankerung eines Rechtanspruches kompetenzrechtlich selbstständig vornehmen.
Gemeinsame Anstrengung aller Stakeholder
Nur durch eine Anstrengung des Bundes, gemeinsam mit den Bundesländern und den Gemeinden kann dieser wichtige Bereich so gestaltet werden, dass wir unser Ziel nach einem Rechtsanspruch auch erreichen. Denn Gesetzgebung und Vollziehung in Angelegenheiten des Kindergartenwesens sind nach Art 14 Abs 4 lit b B-VG Landessache.
Die damit zusammenhängenden Aufgaben werden grundsätzlich von den Gemeinden im eigenen Wirkungsbereich besorgt. Es braucht daher neben der rechtlichen Verankerung, infrastrukturelle und personelle Ressourcen sowie auch eine entsprechende Finanzierung und eine Unterstützung der Länder und Gemeinden bei diesem zukunftsorientierten Vorhaben.
Warum Kinderbildung und -betreuung wichtig sind
Diese acht Gründe sprechen für die rasche Umsetzung unserer Forderungen:
- Chancengerechtigkeit: Die frühe Förderung ist die zentrale Voraussetzung dafür, die Talente aller Kinder unabhängig vom sozialen Hintergrund zur Entfaltung zu bringen.
- Vereinbarkeit: Nur mit einer ganztägigen, ganzjährigen sowie qualitätsvollen und leistbaren Kinderbetreuung wird die Vereinbarkeit von Beruf und Familie lebbar.
- Beschäftigungsturbo: Investitionen in Elementarbildung bringen mehr Arbeitsplätze als viele andere Verwendungen öffentlicher Gelder. Investitionen in Bau von Elementareinrichtungen, direkte Geldleistungen oder Steuererleichterungen bringen nur einen Bruchteil an Beschäftigung.
- Mehr Fachkräfte: Durch die bessere Vereinbarkeit stehen den Unternehmen und dem Arbeitsmarkt mehr – vor allem weibliche – gut ausgebildete Fachkräfte tatsächlich zur Verfügung.
- Gleichstellung: Nur, wenn die volle Erwerbstätigkeit für Frauen ermöglicht wird, kann die Gleichstellung am Arbeitsmarkt Wirklichkeit werden.
- Hohe Rückflüsse: Der Großteil der Investitionen kommt unmittelbar zurück: Für 100 investierte Euro kommen 70 unmittelbar an die öffentliche Hand zurück. Dazu kommen noch Mittel- und Langfristeffekte durch bessere Vereinbarkeit und mehr Chancengerechtigkeit.
- Gewinn für die Zukunft: Kinder, die schon früh einen Kindergarten besuchen, haben mehr Chancen auf bessere Bildung und damit auch auf ein höheres Einkommen, weil damit ein Grundstein in den jeweiligen Bildungsbiographien gelegt wird.
- Regierungsprogramm: Die Bundesregierung hat konkrete Vorhaben für den Ausbau und die Verbesserung der Kinderbildung und -betreuung sowie eine Ausbildungsoffensive vereinbart, die nun auch umgesetzt werden müssen.
Unsere Intention
Mit dem vorliegenden Papier möchten die Sozialpartner und die Industriellenvereinigung den Weg zur Umsetzung eines Rechtsanspruchs konkretisieren, zeitliche Milestones aufzeigen und die notwendige Finanzierung transparent machen. Die “Roadmap Rechtsanspruch” zeigt, welche Schritte bis wann zu setzen sind, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die Qualität in der Elementarbildung in Österreich maßgeblich zu verbessern.
Der 5 Punkte-Plan zum Rechtsanspruch
Punkt 1: Ausbau der Kinderbetreuungsplätze & Ausweitung der Öffnungszeiten
Die Kinderbetreuungsquote der unter Dreijährigen liegt österreichweit bei nur bei 27,6%. Österreichweit gibt es 256.284 Kinder unter 3 Jahren und nur 2.417 Kinderkrippen.[1] Es fehlen etwas mehr als 10.000 Betreuungsplätze um das Barcelona Ziel von 33% zu erreichen. Man weiß auch: Die Öffnungszeiten und die Anzahl der Schließtage von Kinderbetreuungseinrichtungen haben einen wichtigen Einfluss auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Besonders im ländlichen Raum bestehen nach wie vor Engpässe in der Betreuung. Das hat in erster Linie Auswirkungen auf die Beschäftigungsquote der Eltern, v.a. der Mütter.
Konkret braucht es daher:
- Bauliche Erweiterung bestehender Kinderbetreuungseinrichtungen
- Neubau von Krippen und Kindergärten.
- VIF[2]-Konforme Öffnungszeiten in ganz Österreich
- Einbindung und Ergänzung zusätzlicher (nicht)institutioneller qualitätsvoller Betreuungsangebote und Schaffung entsprechender Rahmenbedingungen dafür (Betriebskindergärten - auch unternehmensübergreifend, Tageseltern, Betriebstageseltern, Betreuung am Bauernhof)
- Kluge Gemeindekooperationen, die Synergien bilden
- Flexible Modelle für die Betreuung über die Gemeinde- und Bundesländergrenzen hinaus.
- Berücksichtigung regionaler Unterschiede und des spezifischen Bedarfs der vor Ort lebenden Familien (etwa Erreichbarkeit)
Punkt 2: Hohe Qualität in der Elementarbildung & Kinderbetreuung
Elementare Bildungseinrichtungen, Tageseltern oder Kindergruppen sind neben der Familie die ersten Bildungsorte für mehr als 330.000 Kinder. Pädagogische Qualität und die Erfüllung des elementaren Bildungsauftrages bedürfen optimaler Rahmenbedingungen auf hohem Niveau. Quer über Österreich spannt sich jedoch ein Fleckerlteppich aus unterschiedlichen strukturellen, organisatorischen und pädagogischen Rahmenbedingungen. Damit hängt gute Elementarbildung letztlich vom Wohnort ab.
Konkret braucht es daher:
- Ein klares politisches Bekenntnis, dass es für eine gute frühkindliche Bildung und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine hohe Qualität in den Einrichtungen braucht
- Bundesweit einheitliche Qualitätskriterien, die sich an wissenschaftlich fundierten Standards orientieren unter Einbeziehung internationaler Empfehlungen zu altersadäquaten Gruppengrößen und Betreuungsschlüssel
- Den klaren Auftrag der Politik an den Beirat für Elementarpädagogik (unter Einbindung der Sozialpartner, sowie der IV), diese Qualitätskriterien bis Herbst 2022 mit Fokus auf Qualifikation, Gruppengrößen, Fachkraft-Kind-Relation, Raumbedarf und Ausstattung und Qualitätssicherung zu entwickeln und transparent zu kommunizieren
- Entwicklung eines Stufenplanes (z.B. durch den Beirat) bis Herbst 2022, der konkrete Umsetzungsschritte zur Erreichung der Qualitätsstandards bis 2025 vorsieht
Eine bundesweite Verpflichtung zur Umsetzung der Qualitätskriterien im Rahmen einer 15-a Vereinbarung auf Basis des entwickelten Stufenplans mit dem Ziel, diese in ein Bundesrahmengesetz überzuführen
Punkt 3: Qualitäts- und Quantitätsschub in der Ausbildung
Gerade in der frühkindlichen Bildung sollten die Elementarpädagoginnen und -pädagogen bestens und nach neuesten Erkenntnissen ausgebildet sein. Eine gute Ausbildung ist daher eines der wesentlichen Qualitätskriterien in der Elementarpädagogik. Ausbau und Qualität von Kindergartenplätzen werden nicht ohne genügend qualifiziertes Personal funktionieren.
Konkret braucht es daher:
- Einheitliche Ausbildung der unterstützenden Kräfte bzw. Assistenz, und Weiterentwicklung der BAFEP als Grundlagenausbildung
- Mittelfristig (beginnend mit gruppenführenden und leitenden Funktionen) Umbau des Ausbildungssystems mit einem Abschluss für Elementarpädagogik auf tertiärem Niveau
- Einrichten eines öffentlich finanzierten grundständigen Bachelor-Studiums bis 2023
- Forcierung der Möglichkeiten zur Erhöhung der Durchlässigkeit der Ausbildungswege (Weiterqualifizierung und Quereinstieg) in der Elementarpädagogik
- Substanzielle Aufstockung der Ausbildungsplätze, insbesondere im Bereich der Erwachsenenbildung: Um bis 2025 den Rechtsanspruch ab dem 1. Geburtstag in ganz Österreich umsetzen zu können, müssen schrittweise bis zum Jahr 2023 mindestens 3.000 und bis zum Jahr 2025 mindestens 4.600 neue Pädagoginnen und Pädagogen eingestellt werden[1].
Für eine Verbesserung des Betreuungsschlüssels (z.B. einer dritten pädagogischen Fachkraft pro Gruppe), wäre noch zusätzliches Personal von etwa 5.300 Pädagoginnen und Pädagogen bis 2025 notwendig. - Förderung der Diversität und Inklusion, um mehr Menschen für pädagogische Berufe zu begeistern. Ein Fokus sollte dabei auf einer Steigerung des Anteils (aktuell nur 3%) an Männern in der Elementarpädagogik liegen.
- Steigerung der Attraktivität des Berufs, gute Arbeitsbedingungen und gute Bezahlung, um Menschen langfristig für den Beruf zu begeistern und um Pädagogen und Pädagoginnen im Berufsfeld zu halten
Punkt 4: Zukunftskompetent durch MINT & Sprachbildung
Naturwissenschaftlich-technische Qualifikationen (MINT) und digitale Kompetenzen sind ein Schlüssel zur Bewältigung künftiger, gesellschaftlicher Herausforderungen. Das natürliche Interesse von Kindern an MINT gilt es möglichst früh kindergerecht zu fördern. Aber auch die Sprachbildung ist ein wesentlicher Pfeiler für einen erfolgreichen Bildungsweg und damit die Zukunftsfitness. Generell profitieren alle Kinder von jedem zusätzlichen qualitativ hochwertigen Kindergartenjahr.
Konkret braucht es daher:
- Systematische Verankerung und spielerische Integration von MINT-Themen in den elementarpädagogischen Alltag (Experimentieren, forschendes Lernen, …)
- Fokus auch auf digitale Kompetenzen als vierte Grundkompetenz
- Vermittlung von MINT-Kompetenzen an die Pädagoginnen und Pädagogen im Rahmen von Fort- und Weiterbildungsangeboten
- Gezielte Förderung von Deutsch unter Wertschätzung der Erstsprache der Kinder sowie Kennenlernen und erstes spielerisches Erlernen von Grundkenntnissen in Fremdsprachen, insbesondere Englisch
- Zweites verpflichtendes und kostenloses Kindergartenjahr für alle ab vier Jahren ab 2025. Fokus ist die altersgerechte und spielerische Vermittlung vorschulischer Inhalte und Vorläuferfähigkeiten. Rund 5.000 Kinder könnten damit zusätzlich erreicht werden.
Punkt 5: Planungs- & Finanzierungssicherheit
Die ordentlichen und außerordentlichen Ausgaben der Länder und Gemeinden für Kindergärten, Krabbelstuben, Kinderkrippen etc. betrugen im Jahr 2019 2,89 Mrd. €.[1] Trotz Zweckzuschüssen und Co-Finanzierung stemmen den Großteil der laufenden Kosten die Gemeinden aus den allgemeinen Haushalten. Der notwendige Ausbau und Qualitätsschub stellt diese daher vor noch mehr personelle, finanzielle und organisatorische Herausforderungen.
Konkret braucht es daher:
- Aufschließen Österreichs bei den Investitionen in frühkindliche Bildung auf den EU-Schnitt von 1 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt bis 2025
- Planbarkeit für die Träger der Einrichtungen (Gemeinden, Länder, Private) durch zeitgerechte Anmeldung des Betreuungsbedarfs
- Die finanzielle Unterstützung vor allem kleinerer Gemeinden beim Ausbau des Kinderbetreuungsangebotes
- Verknüpfung der Finanzierung mit dem tatsächlich bereitgestellten Angebot und Zuschüssen pro betreutem Kind (differenziert nach Alter der Kinder, Öffnungszeiten etc.) in einem transparenten System. So bekommen jene Gemeinden, die ein gutes Angebot an Kinderbildung haben oder dieses verbessern, mehr Mittel als bisher. Idealerweise sollte das neue System zeitnah zur laufenden Aufstockung der Mittel erfolgen. Jedenfalls muss dieser aber spätestens im Rahmen des neuen Finanzausgleichs 2023 umgesetzt werden.
Zusätzliche Finanzierung mit hohem Return on Investment
Eine aktuelle Studie von EcoAustria unterstützt unsere Forderung nach dem Ausbau einer flächendeckenden und qualitativ hochwertigen Kinderbetreuung.
Bei einer Erhöhung der Betreuungsquote um 20 Prozentpunkte fallen laut dieser Berechnung etwa 893 Millionen Euro an Kosten und 567 Millionen an direktem Rückfluss über öffentliche Abgaben sowie 815 Millionen zusätzlichen Konsumausgaben an. Die durch den Ausbau entstehenden Kosten würden demnach schon kurzfristig zu 2/3 durch zusätzliche Einnahmen aus öffentlichen Abgaben gedeckt. Diese entstehen durch die erhöhte Erwerbsbeteiligung, dazu kommt ein Anstieg des Privatkonsums. Längerfristig ist zu erwarten, dass die Bilanz noch positiver ausfällt.
Ein Rechtsanspruch auf eine qualitätsvolle Kinderbildung und -betreuung – flächendeckend, flexibel, leistbar und qualitätsvoll – erfordert eine Steigerung des Betreuungsangebots und eine Hochrechnung der Kosten und Rückflüsse. Unter Einbeziehung der Erhöhung der Qualität zeigt sich auch im internationalen Vergleich, dass hier Aufholbedarf besteht: Die EU-Staaten investieren im Schnitt 1 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung in Kindergärten. Auch Österreich sollte sich diesem Ziel verschreiben. Damit stünde in etwa 1 Milliarde mehr jedes Jahr für Zukunftsinvestitionen in der Elementarbildung zur Verfügung.